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“Ich bin erstaunt, wie viele Leute im Westen für die Stasi gearbeitet haben sollen”

ZEIT: Wie in allen ostdeutschen Verwaltungen prallten hier nach dem Mauerfall zwei Welten aufeinander.

Böhmer: Jemandem, der nicht in der DDR gelebt hat, ist es schwer zu vermitteln, dass es ein Unterschied ist, ob man aus Überzeugung für die Stasi gearbeitet hat oder dazu genötigt wurde. Ich kenne einen, der mit Mitte zwanzig zu lebenslanger Haft in Bautzen verurteilt worden war und der nach acht Jahren unterschrieben hat, für die Stasi zu arbeiten, um rauszukommen. Ich finde das Verhalten nicht nobel, aber menschlich verständlich.

ZEIT: Hat Ihre Fürsprache bei Ihrem Fahrer genutzt?

Böhmer: Der Mann wurde wieder eingestellt, durfte aber nicht mehr mich fahren, sondern nur noch Post. Das Beispiel zeigt: Wir brauchen fachkundige Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde, die die Umstände aus der DDR-Zeit kennen.

ZEIT: Bis heute werden nur im Osten Abgeordnete und Bewerber für den öffentlichen Dienst auf Stasi-Mitarbeit überprüft. Auch in der alten BRD gab es Stasi-Mitarbeiter. Messen wir da mit zweierlei Maß?

Böhmer: Die westlichen Länder waren natürlich nicht so betroffen wie wir im Osten. Aber ich bin erstaunt, wie viele Leute im Westen für die Stasi gearbeitet haben sollen. Sie waren ja nicht so erpressbar wie so mancher in der DDR.

ZEIT: Sollte mit den Überprüfungen nach 2019 Schluss sein?

Böhmer: Nicht generell. 2020 liegt das Ende der DDR dreißig Jahre zurück. Wer dann neu eingestellt wird, ist wahrscheinlich nach 1980 geboren und kann nicht wirklich für die Stasi gearbeitet haben.

ZEIT: Nicht wenige fordern, endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und sich zu versöhnen.

Böhmer: Ich kenne das, vor allem die Kirchen rufen ja dazu auf. Aber Versöhnung ist nichts, was der Bundestag beschließen kann. Versöhnung ist immer eine individuelle Leistung. Wir sollten noch keinen Schlussstrich unter das gesamte Stasi-Kapitel ziehen. Die Behörde, wie auch immer sie künftig aussehen mag, muss meiner Meinung nach der politischen Bildung dienen. Als Negativbeispiel, das den Menschen zeigt, wie sehr wir uns für demokratische Strukturen engagieren müssen.

ZEIT: Hilft ein plakativer Begriff wie “Unrechtsstaat” bei der Aufarbeitung?

Böhmer: Dass die DDR ein Unrechtsstaat war, ist für mich ein Fakt. Ich kann darin keine Verunglimpfung des persönlichen Lebens ihrer Bürger sehen. Die damalige Justiz war nicht unabhängig, sondern ein Organ zur Sicherung der Macht. Die DDR hatte zwar ein ausdifferenziertes Rechtssystem und sogar eine Verfassung. Aber man konnte die darin enthaltenen Rechte nicht einklagen, sondern nur eine Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden machen. Dieser hat dann nach seinem Ermessen entschieden.

ZEIT: In Thüringen hat nun sogar die Linke die DDR als Unrechtsstaat anerkannt. Was sagen Sie dazu, dass demnächst der Linke Bodo Ramelow dort Ministerpräsident sein könnte?

Böhmer: Das bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes. Die Linke ist eine zugelassene Partei. Bemerkenswert finde ich: Der Partei ist die Macht so wichtig, dass sie Positionen räumt, die sie 25 Jahre lang vehement vertreten hat. Aber wenn sie von so vielen Leuten gewählt wird, muss man damit leben – auch wenn es einem nicht gefällt. Statt alte Parolen hervorzukramen, muss auch meine Partei, die CDU, Herrn Ramelow und die Linke mit demokratischen Mitteln bekämpfen – also mit besseren Argumenten.

ZEIT: Oder mit künstlerischen Mitteln, wie neulich Wolf Biermann im Bundestag?

Böhmer: Selbst wenn man Biermann schmunzelnd recht gibt: Seine Einladung zu so einer Philippika zu nutzen ist nicht der Stil, der im Parlament gepflegt werden sollte. Er war im Bundestag und nicht im Varieté.

ZEIT: Sie sind seit fast vier Jahren im Ruhestand. War die Sehnsucht nach der Politik so groß, dass Sie jetzt wieder einsteigen?

Böhmer: Es geht nicht um Sehnsucht. Das Problem, für dessen Lösung wir Vorschläge suchen sollen, ist mir wichtig. Mich interessiert die Frage, welche Zukunft die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit hat. Deswegen mache ich bei der Kommission mit. Und ich habe ja jetzt Zeit dafür.